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Publicly Available Published by De Gruyter April 17, 2020

Kotthoff, Helga; Nübling, Damaris: Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018. -- ISBN 978-3-8233-6913-4. 393 Seiten, € 26,99.

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Rezensierte Publikation:

Kotthoff, Helga; Nübling, Damaris: Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018. -- ISBN 978-3-8233-6913-4. 393 Seiten, € 26,99.


Der Einführungsband Genderlinguistik erschien Ende 2018 und trifft auf eine akute Publikationslücke. Zwar liegen Sammelbände wie jene von Günthner et al. (2012) zu verschiedenen Fragestellungen der Genderlinguistik oder auch ältere Grundlagentexte wie Samels Einführung in die feministische Sprachwissenschaft (2000), vor; jedoch vermisst das Fachgebiet weiterhin Veröffentlichungen, die dem interdisziplinären Charakter gerecht werden und gleichzeitig einen angemessenen Forschungsanspruch verfolgen.

Den Untertitel ihrer Veröffentlichung nehmen die Autorinnen wörtlich und liefern einen breit gefächerten Überblick über Themenfelder der Genderlinguistik. Dabei werfen sie Fragestellungen auf, die laut den Verfasserinnen bislang weitgehend vernachlässigt werden. Dies liegt nicht zuletzt auch an einer Profanisierung des Diskurses um gendergerechte Sprache, welcher mit dem vorliegenden Sammelband hervorragend begegnet wird.

Die Einführung versteht sich explizit nicht als feministischer Text, was die Autorinnen im einführenden Kapitel Wozu Genderlinguistik? klar postulieren, und er unterliegt keinem sprachpolitischen Anspruch (vgl. 18). Damit distanziert er sich sowohl von der Disziplin der feministischen Linguistik (siehe z. B. Pusch 2005) als auch von den Gefahren der Verunwissenschaftlichung beim Begehen eines ideologisch hoch aufgeladenen Feldes. Die Relevanz des Einführungsbandes sehen die Autorinnen nicht nur in der drastischen Forschungslücke begründet, sondern auch in dem Auftreffen des Naturells der deutschen Sprache auf einen fruchtbaren Boden gegenwärtiger Debatten um ihre Veränderungen bzw. ihre Veränderbarkeit.

„Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das deutsche Sprachsystem eine Obsession mit Gender hat“ (19). Die Genusmarkierungen des Deutschen sind hochpräsent und sie dienen nicht nur der grammatischen Referenz, sondern sie bauen und festigen zwangsläufig auch Geschlechterbilder (vgl. 19). Dies und gleichermaßen ihre Möglichkeit zur Veränderung eben jener Stereotypisierungen erklärt vordergründig die Relevanz von Genderlinguistik.

Im zweiten Kapitel widmen sich die Autorinnen dem Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch, womit sie Grundlagen des Konstruktivismus darlegen und Gender als ein identitätsstiftendes Merkmal und Produkt sozialer Prägung einführen. Hier wie auch im gesamten Band stellen sie immer wieder interdisziplinäre Verknüpfungen zur Soziologie, den Kommunikations- und Kulturwissenschaften sowie zur Soziolinguistik her. Sprachliche Phänomene werden anschaulich in soziale Zusammenhänge eingebettet, in welchen die Kategorie Gender hinsichtlich ihres Einflusses untersuchbar wird (vgl. 37–38). Dafür legen die Verfasserinnen Schnittstellen zwischen Individualität, Institutionalisierung und Gesellschaft offen, wobei die Grundannahme stets lautet, dass Verfahren des (Sprach-)Handelns genderisierend wirken und darüber Gender-Indices ausbilden, die analysierbar sind (vgl. 40–42).

Kapitel 3 stellt den Übergang zu den sprachwissenschaftlichen Betrachtungen des Einführungsbandes dar, indem es sich der Prosodie und Phonologie widmet. Dies ist als ausgesprochen positiv zu bewerten, wird doch jenes Teilgebiet bislang aus genderlinguistischen Fragestellungen ausgeklammert. Eine Stärke der Veröffentlichung liegt zudem in der Vielzahl von Forschungsreferenzen, die Selbstverständlichkeiten eines starren und binären Geschlechterbildes ins Wanken bringen.

Kapitel 4 erläutert umfänglich das System der Nominalklassifikation: Flexion und Genus. Interessant ist die Darlegung der Autorinnen, inwieweit die neutral geglaubte Grammatik mit jeder Deklination eine binäre und hierarchische Geschlechterordnung reproduziert (vgl. 61). Ausführlich beschreibt das Kapitel, dass Deklinationsklassen „Speicher sozialer Verhältnisse“ sind und wie nah Grammatik doch mit Gesellschaft verknüpft ist (vgl. 64–65). Hierfür werden kontinuierlich sprachgeschichtliche Abrisse in die Argumentation eingebettet. Aufbauend auf dieser grammatischen Grundlage analysieren die Verfasserinnen in einem eigenen Kapitel Das [...] generische Maskulinum. Es erfolgt eine gründliche Aufschlüsselung verschiedener Determinationsarten und Referenzialitätsgrade des geschlechtsübergreifenden Maskulinums, welche verdeutlicht, inwiefern die Attribuierung des Generischen verkürzt ist und es einer Differenzierung dieser vermeintlich genderneutralen Personengruppenbezeichnungen bedarf. In stetiger Rückkopplung des Linguistischen zum Gesellschaftlichen offenbart dieses Kapitel, dass das oftmals proklamierte ‚Mitmeinen von Frauen’ an der Rezeption scheitert, in welcher Nichtmänner eben nicht im gleichen Maße wie Männer mitgelesen bzw. mitgehört werden. Es wird deutlich, inwieweit das Grammatische das Wahrnehmen beeinflusst und wie androzentrisch die deutsche Sprache letztendlich ist (vgl. 111). Der Grammatik widmen sich die beiden anschließenden Kapitel Morphologie und Syntax.

Auch Lexikon und Semantik werden aus gegenwärtiger wie sprachgeschichtlicher Perspektive beleuchtet; so lege die historische Semantik eine deutliche Pejorisierung weiblicher Personenbezeichnungen offen (vgl. 167). Interessante Unterthemen wie Schimpfwörter, Redewendungen und die geschlechtliche Repräsentanz in Wörterbüchern belegen die lexikalische Manifestation problematischer Rollenbilder (vgl. 171–173, 180). Dabei beweisen die Verfasserinnen den Mut zur Kritik ihres eigenen Fachs, beispielsweise wenn es um das Publizieren diskriminierender Beispielsätze in Veröffentlichungen der Linguistik geht (vgl. 185).

Kapitel 9 integriert das bislang weitgehend vernachlässigte Feld der Onomastik aus dem Blickwinkel der Genderforschung (vgl. 191). Die Bedeutung von Namen wird explizit dadurch verdeutlicht, als dass sie als tertiäre Geschlechtsorgane bezeichnet werden, welche hochgradig genderisierend wirken (vgl. 192). Es werden historische Aspekte der Namensentwicklung, aber auch aktuelle Themen wie die Regelung von Vornamensvergaben einbezogen, (gedacht sei an (un)erlaubte migrantische oder nonbinäre Namen) (vgl. 192–193).

Vergleichsweise kurz ist das Kapitel zur Schreibung, in welchem die Alternativen des generischen Maskulinums vorgestellt werden. Es handelt sich um medial emotionalisierte Schreibweisen im Sinne schriftsprachlicher Beidnennung wie der Binnenmajuskel oder dem Gendersternchen. Formen mündlicher Beidnennung werden leider nur gestreift.

Kapitel 11 und 12 stellen den Übergang zum soziolinguistisch ausgerichteten Teil der Einführung dar. Es werden beispielsweise Varietäten als identitätsstiftende Sprachmerkmale präsentiert, die bewusst oder unbewusst zum Einsatz gebracht werden, um Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Gruppen zu erschaffen (vgl. 245–247). Darunter fällt auch genderisiertes Sprechen. Weibliches und männliches Sprechen lässt sich hierbei explizit nicht ohne Klassen- und Milieuzugehörigkeiten denken, was Verallgemeinerungen erschwert und mit Hilfe repräsentativer Forschungsergebnisse manch pauschalisierte Annahme, wie Frauen bzw. Männer sprächen, widerlegt (vgl. 249).

Kapitel 13 fragt schließlich nach Gender im Gespräch und darüber hinaus. Die Autorinnen reflektieren und korrigieren dabei auch einflussreiche Forschungen (vgl. 273–275). Kontext und Status erweisen sich in diesen Betrachtungen von Redezeit, Unterbrechungen, Turn-Taking etc. immer wieder als wirkmächtig neben der Kategorie Gender. Auch Analysen zu Humor und Scherzkommunikation sowie das Thema Mode mit ihrer genderisierenden Wirkung werden tangiert.

Während sich Kapitel 14 Fernsehen, Radio und Printmedien widmet, bezieht sich das letzte Kapitel auf die Neuen Medien. Hier offenbaren sich zahlreiche Forschungsdesiderata. Es geht um mediale Repräsentanz von Gender und Geschlechterrollen, sei es in den Nachrichten, in Sportberichten, humorvollen Bühnenprogrammen, und um das Konzept der Hyperritualisierung in Werbung. Es geht aber auch um das Konsum- und Nutzungsverhalten internetbasierter Angebote (vgl. 331–332, 336–337) sowie die Selbst- und Fremdkonstruktion von Gender in sozialen Netzwerken bis hin zum Online-Dating.

Die große Stärke dieser Einführung liegt in ihrem beispiel- und forschungsbasierten Charakter, die dem Kompendium das nötige Fundament verschaffen. Sie liefert einen gelungenen Überblick über eine Vielzahl von Aspekten der Genderlinguistik, zu welcher somit auch Leser*innen ohne Vorkenntnisse einen Zugang erhalten können. Termini der Linguistik und das Konstrukt Gender werden ausführlich erläutert und vorgestellt. Unterstützt wird dies durch eine übersichtliche Gestaltung mit klar gegliederter Kapitelstruktur und Info-Kästen, welche die Lesbarkeit erleichtern. Es gelingt den Autorinnen darüber hinaus, eine wissenschaftlich ernstzunehmende Veröffentlichung vorzulegen, die sich auch immer wieder eines humorvollen Tons bedienen kann. Auch wenn die Einführung in Selbstproklamation keine feministische ist, so erhalten dennoch auch feministische Linguist*innen, wie z. B. Luise Pusch, immer wieder ihren Raum. Darüber hinaus ist es eine elementare Erkenntnis, dass Sprache politisch ist und die Frage nach ihrer genderisierenden Wirkung deshalb für all jene relevant ist, welche sich mit ihr befassen. Der Einführungsband kann deshalb allen Philolog*innen unabhängig von ihrer konkreten Disziplin Impulse für die eigene Forschung bieten und als Nachschlagewerk fungieren.

In Deutschland hat die Genderlinguistik an keiner Universität einen Lehrstuhl (vgl. 17) und die Lektüre der vorliegenden Einführung offenbart zahlreiche Forschungslücken. Die Autorinnen müssen deswegen allzu oft auf Ergebnisse US-amerikanischer Studien zurückgreifen, welche sich leider nicht immer problemlos auf das Deutsche übertragen lassen. Weiterhin vernachlässigen Forschungsvorhaben bislang nichtbinäre Perspektiven weitgehend, wobei sie von hoher Relevanz für den Bereich der Genderlinguistik sind. Außerdem wären solch ausführliche Betrachtungen wie die vorliegenden ebenso wie die vermissten Untersuchungen auch für Deutsch als Fremd- sowie Deutsch als Zweitsprache ungemein bereichernd.

Die Autorinnen dieses Einführungsbandes selbst gebrauchen im Übrigen ein randomisiertes Verfahren verschiedener Formen generischer und nichtgenerischer Personenbezeichnungen -- und das ganz ohne den so oft gefürchteten Verlust der Lesbarkeit.

Literatur

Günthner, Susanne; Hüpper, Dagmar; Spieß, Constanze (Hrsg.) (2012): Genderlinguistik. Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentität. Berlin: De Gruyter (Linguistik: Impulse & Tendenzen, 45). 10.1515/9783110272901Search in Google Scholar

Pusch, Luise F. (2005): Alle Menschen werden Schwestern. Feministische Sprachkritik. Frankfurt: Suhrkamp. Search in Google Scholar

Samel, Ingrid (2000): Einführung in die feministische Sprachwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt. Search in Google Scholar

Online erschienen: 2020-04-17
Erschienen im Druck: 2020-04-08

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 20.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/infodaf-2020-0049/html
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