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Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Ohne Zweifel links

Der Konservative Frank Schirrmacher hat ein Buch über den Irrsinn des totalitären Kapitalismus geschrieben. "Ego" ist ein intellektuelles Vergnügen und ein politisches Zeichen der Hoffnung: Der Widerstand wächst.
"FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher: Das System zuckt zusammen

"FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher: Das System zuckt zusammen

Foto: MARCO-URBAN.DE

Im Spiel will jeder gewinnen. Das ist die Bedingung der Spieltheorie. Damit lassen sich komplizierte Handlungsmuster beschreiben. Im Kalten Krieg haben amerikanische Militärs und Physiker die Sowjets mit den Instrumenten der Spieltheorie in die Knie gezwungen. Als es keine Sowjets mehr gab, sind die Physiker an die Wall Street gegangen und zwingen seitdem mit ihrer Theorie die Welt in die Knie. Wir alle sind Opfer einer Ideologie des Egoismus. Sie wurde für eine Welt des Krieges entwickelt und verheert heute den Frieden. Eine Ideologie der Kälte und des Autismus. Eine Ideologie von Psychopathen für Psychopathen.

Das ist die Idee des neuen Buchs von Frank Schirrmacher.

Auf diese Idee muss man erst mal kommen. Aber es ist die Aufgabe von Intellektuellen, auf Ideen zu kommen. Schirrmachers neues Buch erinnert daran, dass wir gar nicht so viele Leute im Land haben, denen mal ein Licht aufgeht.

Im neuen SPIEGEL hat Schirrmacher einen Essay über seine Thesen geschrieben. Es geht um den Informationskapitalismus, um die Algorithmen, die unsere digitale Wirklichkeit bestimmen und damit zunehmend auch die reale, und es geht um das abstruse Menschenbild der Wall-Street-Täter, für die das Leben ein Kampf und Kooperation eine Krankheit ist. Es geht um die Physiker, die zu Beginn des Atomzeitalters in die militärischen Labors strömten, und die dann nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in die Banken und Investmentgesellschaften wechselten, weil dort Arbeit und Anerkennung winkten. Es geht um die sonderbare Verquickung von staatlichen und halbstaatlichen Institutionen und Stiftungen mit militärischen und wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen, vor allem um jene Rand Corporation, die bei der Geburt eines neuen, nur noch auf Selbstoptimierung ausgerichteten Menschentypus wegweisend war. Auch wenn dieser Menschentypus dem gesunden Menschenverstand widersprach.

In Schirrmachers Buch kann man lesen: "Die Rand-Wissenschaftler testeten eines ihrer wichtigsten Spiele, das 'Gefangenen-Dilemma', mit den Sekretärinnen, die bei Rand arbeiteten, indem sie alle möglichen Szenarien kreierten, in denen die Frauen kooperieren oder einander betrügen konnten. In jedem einzelnen Experiment wählten die Sekretärinnen allerdings nicht den egoistischen Weg, den die Rand-Forscher erwartet hatten, sondern die Kooperation." Die verblüfften Forscher schoben die Schuld für die misslungenen Experimente auf die Sekretärinnen: "Sie seien schwache Subjekte, unfähig, der einfachen Grundregel zu folgen, dass ihre Strategien egoistisch zu sein hatten."

Kapitalismuskritik im Herzen des Kapitalismus

"Ego" ist also ein Buch über den menschenverachtenden Irrsinn des totalitären Kapitalismus. Das Buch ist ein intellektuelles Vergnügen. Vor allem aber ist die Tatsache, dass dieses Buch aus der Feder des konservativen Journalisten Schirrmacher stammt, ein weithin sichtbares politisches Signal: Die Kapitalismuskritik ist inzwischen im Herzen des Kapitalismus angekommen. Welche Wirkung wird sie dort entfalten?

Schirrmacher ist nicht irgendein Sachbuchautor. Die Gendebatte, die Altersdebatte, die Internetdebatte, die Finanzmarktdebatte - das sind alles Schirrmachers Debatten. Er hat sie nicht erfunden. Aber er hat sie geprägt. Alarmismus, Lust an der Kampagne, Sucht nach Öffentlichkeit, Erfolgsverliebtheit - all das hat man ihm vorgeworfen. Und alles zu Recht: Denn Schirrmacher ist der spannendste Journalist des Landes.

Seit Jahren treibt es ihn um, dass in Amerika der Code unserer Zukunft geschrieben wird und wir davon nichts wissen. Im Jahr 2000 klagte Schirrmacher: "Der amerikanische Theoretiker und Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen."

Und heute stellt er fest: "Irgendwie ist uns in Europa entgangen, mit welchen gigantischen Hoffnungen die Wall Street ihre Physiker empfing: als Menschen, die gemeinsam mit den Ökonomen etwas schaffen würden, das der Atombombe gleichkäme. (...) Es war die Verschmelzung von Ökonomie, Physik und Gesellschaftstheorie zu einer neuen Praxis der sozialen Physik." Würde Sahra Wagenknecht das sagen, das System würde mit den Schultern zucken. Wenn Schirrmacher das sagt, zuckt das System zusammen. Entsprechend unwirsch wird Schirrmachers Linkswendung im konservativen Lager aufgenommen. Wie ein Verrat.

Alan Posener, einer von den Autoren, die Springers "Welt" den Ruf eingebracht haben, zur Kaderschmiede intellektueller Vorderlader geworden zu sein, war schon im Dezember in Vorleistung gegangen. Posener empörte sich damals im Internet darüber, dass Schirrmachers "FAZ" schon seit geraumer Zeit "auf der Klaviatur der linken Fundamentalopposition" spiele, und schlug dann einen unerwarteten gedanklichen Haken. Posener klagte, Schirrmacher beschreibe in seinem Buch "das individualistische Menschenbild der Aufklärung (...) als das eigentliche Monster des 20. Jahrhunderts" - und dass, obwohl dieses Menschenbild nun ausgerechnet für jenes Land stehe, "das den arischen Übermenschen der Nazis und den proletarischen neuen Menschen der Kommunisten - diese beiden Exponenten des nicht egoistisch, sondern kollektiv denkenden Homo post-oeconomicus - niederrang", also für Amerika.

"Geschichtsumschreibung im großen Stil"

Der "Welt"-Mann Posener, Experte für den herben Charme der fünfziger Jahre, verdächtigte also den Kollegen Schirrmacher - die alten Springer-Reflexe hellwach - schlicht des Anti-Amerikanismus: "Hier soll offensichtlich Geschichtsumschreibung im großen Stil betrieben werden." Donnerwetter!

Das Problem war nur: Schirrmachers Buch war damals weder veröffentlicht noch fertiggestellt, und der Schein-Rezensent Posener konnte es also auch nicht gelesen haben. Verriss vor Veröffentlichung: ein bemerkenswertes Kunststück.

Aber diese Art von Journalismus-Simulation macht in vulgär-konservativen Kreisen offenbar gerade Schule. In dieser Woche fällt das Magazin "Focus" gleich auf mehreren Seiten über das Schirrmacher-Buch her - ohne erkennbare Kenntnis des Textes. Das Blatt schreibt: "Erste Besprechungsexemplare hat der Verlag diese Woche verschickt" - aber, so der Eindruck, offenbar nicht an den "Focus". Damit nicht genug: "Focus" lässt auch ein paar "Intellektuelle" zu Schirrmachers Buch vorsprechen. Darunter Leute, die über diese Bezeichnung wahrscheinlich zu Recht überrascht wären, die aber auf jeden Fall alle den Eindruck erwecken, das Buch ebenfalls nicht gelesen zu haben.

In solchen Kampagnen bäumt sich der Trotz der letzten Gläubigen einer gescheiterten neoliberalen Ideologie auf, die in den Kältestuben ihres Ressentiments ihr trauriges Menschenbild pflegen, das Schirrmacher hier so schonungslos entlarvt. Sie zürnen, weil Schirrmacher sich in den Kampf gegen die "marktkonforme Demokratie" einreiht, mit der sie längst ihren Kapitulationsfrieden gemacht haben.

Diesen Kampf wird die Zivilgesellschaft führen müssen. "There is an alternative", sagt Schirrmacher, es gibt einen anderen Weg. Jan Fleischhauer, der im SPIEGEL ein gründliches Gespräch mit Schirrmacher geführt hat, stellte die Frage: "Würden Sie es als Beleidigung empfinden, wenn man Sie heute als links bezeichnet?", und Schirrmacher antwortet: "Beleidigung? Darauf käme ich sowieso nicht. Ich finde auch nicht, dass ich mich verändert habe. Ich bin wie wir alle nur Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte. Ich war es auch nicht, der die Verstaatlichung von Banken forderte. Das waren Banker."