Labeln oder nicht labeln? Die Wuppertaler Literatur Biennale diskutiert über ‚postmigrantische Literatur‘

Auf dem Bild sitzen Prof. Riem Spielhaus, Deniz Utlu und Dr. Mithu Sanyal an einer Bar und schauen lächelnd einander an oder in die Kamera. Die vier Lampen über ihnen sehen aus wie kleine Glaswolken. © Stadt Wuppertal/Kulturbüro

Was ist mit ‚postmigrantischer Literatur‘ gemeint, wie prägt sie gegenwärtig die deutsche Literaturlandschaft und ist es sinnvoll, sie als solche zu bezeichnen? Das sind die drei Fragen, die in der Veranstaltung ‚Diskurs & Disko – Postmigrantische Literatur‘ am 3. September 2022 im Rahmen der Wuppertaler Literatur Biennale diskutiert wurden. Drei Hauptfragen, die an große Themen wie Repräsentation, Kanon in der Bildung oder Ästhetik angrenzen – und damit nicht leicht zu beantworten sind.

von Camille Englert

Was ist eigentlich ‚postmigrantisch‘?

Dass wir in einer postmigrantischen Gesellschaft leben, lässt sich nicht abstreiten. ‚Postmigrantisch‘ bedeutet nicht etwa, wir seien in einer Ära angelangt, in der es keine Migration mehr gäbe oder wir jenseits der Migrationsdebatten wären, sondern macht darauf aufmerksam, dass die meisten Menschen, die in Deutschland geboren sind, eine migrantische Geschichte mit sich tragen – obwohl sie nicht selbst migriert sind. Diese pluralen Geschichten machen de facto die Diversität der deutschen Gesellschaft aus.

In den meisten Bereichen und öffentlichen Repräsentationsflächen, darunter auch im Kulturbereich, wird diese Diversität aber nicht repräsentiert. Der Zugang zu allgemein anerkannten Institutionen wie Opern, Theatern und Museen ist für ‚Postmigrant*innen‘ aus strukturellen Gründen meist beschränkt, sodass ihnen letztendlich verwehrt wird, die Kunst und Kultur der Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Diese mangelhafte Repräsentation ist mit einem anderen Problem eng verbunden: Diese Menschen werden, obwohl sie in Deutschland geboren und deutsch sind, immer wieder auf ihre Migrationsgeschichte zurückgeführt, auf ihr vermeintliches ‚Anderssein‘. Wie soll man sich zu Hause fühlen, wenn einem immer die Zugehörigkeit aufgrund des eigenen Aussehens oder der Migrationsgeschichte der Eltern bzw. Großeltern abgesprochen wird?

Die sechste Wuppertaler Literatur Biennale denkt über Diversität und Identität nach

Mit dieser Frage gelangen wir zum Herzen des Themas, das im Rahmen der Wuppertaler Literatur Biennale mit zahlreichen Autor*innen und Philosoph*innen diskutiert wird: ‚Zuschreibungen. Geschichten von Identität‘. Angesichts der Komplexität dieses Themas hat sich das Biennale-Team Hilfe von Dr. Mithu Sanyal geholt, die zur Patin dieser sechsten Ausgabe geworden ist, zwei Panels kuratiert und eine Lesung durchführt. Die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin sowie Autorin hat 2021 mit ihrem Roman Identitti das vermeintliche Feld stark geprägt und die Diskussion in der Öffentlichkeit angeregt.

Um zum Nachdenken über ‚postmigrantische Literatur‘ anzuregen, moderiert sie im Kulturzentrum die börse vor einem gebannten Publikum die Podiumsdiskussion mit Deniz Utlu und Prof. Riem Spielhaus, zwei Menschen, die sich im Rahmen ihrer Tätigkeiten und Forschungsinteressen viel mit den anliegenden Fragen beschäftigt haben. Deniz Utlu arbeitet als Autor, Essayist und Kolumnist und ist der Gründer des Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen, Leiterin der Abteilung ‚Wissen im Umbruch‘ am Leibniz-Institut für Bildungsmedien, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Islamkolleg Deutschland e. V. sowie Vorstandsmitglied des Rats für Migration. Mithu Sanyal kennt ihre Gäst*innen aus unterschiedlichen Kontexten seit mehreren Jahren. Sie interviewte die Professorin nach der Veröffentlichung eines ihrer Essays, Deniz Utlu lernte sie später im Rahmen des Sammelbandes Eure Heimat ist unser Albtraum (2019) kennen – ein geniales Buch, wenn ich das hier einfügen darf. Alle drei sitzen entspannt auf der Bühne und freuen sich, ihre Gedanken über das Thema auszutauschen. Wenn es keine Mikros gäbe, könnte man fast vergessen, dass dieses Gespräch im Rahmen einer offiziellen Veranstaltung vor Publikum stattfindet.

In diesem Panel sind also Literaturschaffende und Wissenschaftlerinnen gleichermaßen repräsentiert, um über den ‚postmigrantischen‘ Literaturzweig und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft zu diskutieren. Sie sind gleichzeitig auch Betroffene und Expert*innen. Ein außergewöhnliches, aber wichtiges Detail. Denn heutzutage trifft man nicht selten auf die paradoxalen Unterstellungen: „Du kannst nicht darüber reden, weil du betroffen bist und damit nicht neutral“ oder „Du darfst keine Meinung dazu äußern, weil du nicht betroffen bist“. Keiner dieser Vorwürfe bringt uns weiter. Erstens ist niemand ‚neutral‘ – weiße Menschen, die nicht unter dem strukturellen Rassismus leiden, sind auch Teil des Systems und profitieren davon (ob sie es wollen oder nicht). Zweitens sind Expert*innen Menschen, die sich systematisch, wissenschaftlich und analytisch mit strukturellem Rassismus befassen und ihn somit als gesellschaftliches Phänomen behandeln. Dies geschieht unabhängig davon, ob sie diesen direkt erleben oder nicht. Diese doppelte Sicht – Expert*in und Betroffene*r – ist auch im Gespräch zu spüren. Mithu Sanyal kündigt an, dass sie verschiedene Themen mitgebracht hat, die Diskussion aber nicht in eine bestimmte Richtung leiten, sondern mit Deniz Utlu und Prof. Spielhaus „laut nachdenken“ möchte. Das tun sie auch, und die Moderatorin adressiert ihre Fragen an ihre Gäst*innen, mal in ihrer Rolle als Expert*in, mal in ihrer Rolle als Betroffene*r.

‚Postmigrantische Literatur‘: Begriff und Definition

Die eigentliche Frage, die diese Podiumsdiskussion wie einen roten Faden durchzieht, wird am Ende von einem Zuschauer gestellt: Was hat die Bezeichnung ‚postmigrantisch‘ in der Literatur zu suchen, wenn es doch die Gesellschaft ist, die ‚postmigrantisch‘ ist?

Riem Spielhaus erinnert an die Einführung des Begriffs in der Theaterszene durch Shermin Langhoff, die einen Raum geschaffen hat, in dem die Perspektive einer Generation sichtbar gemacht werden sollte, deren Diversität in keinem gesellschaftlichen Bereich vertreten wurde. Laut der Professorin ist die Irritation, die der Begriff sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft allgemein ausgelöst hat und immer noch auslöst, extrem fruchtbar. Denn diese Irritation ruft Fragen hervor, sie animiert dazu, verschiedene Bereiche zu untersuchen, um zu verstehen, warum die Perspektive der ‚Postmigrant*innen‘ grundsätzlich so wenig vertreten ist. Viele wissenschaftliche Felder treffen dabei aufeinander, wie z. B. die Migrations-, die Islam- und die Rassismusforschung, mit Fragen wie: Welche Zuschreibungen oder Ausgrenzungen erfolgen? Was fällt alles unter den Begriff ‚Heimat‘, je nachdem, von wem und wo er gebraucht wird?

Riem Spielhaus versteht aber die Kritik, die an die Kategorisierung ‚postmigrantische Literatur‘ herangetragen wird und darin besteht, dass es immer noch bedeutet, dass dieser Zweig gelabelt und aussortiert wird, getrennt von der restlichen Literatur. Für sie jedoch haben die Menschen, die diesen Begriff verwenden, ein gemeinsames Ziel: Die „Wo-kommst-du-eigentlich-her/du-gehörst-nicht-richtig-dazu“-Obsession zu überwinden. „Haltung statt Herkunft“, fügt sie lächelnd hinzu.

Diesen Zwiespalt kennt Mithu Sanyal gut. Sie hat das dringende Bedürfnis, über die ‚postmigrantische Perspektive‘ in der Literatur zu sprechen, gleichzeitig fühlt sie sich unwohl dabei, weil von ‚postmigrantischer Literatur‘ zu sprechen wieder eine Zuweisung ist. Andererseits hat sie Recht, wenn sie feststellt: „Solange wir keine Begriffe dafür haben, können wir nicht darüber sprechen.“

Kritik am Begriff: Ästhetik versus Inhalt

Deniz Utlu teilt Mithu Sanyals Sehnsucht, über diese Literatur zu sprechen, bedauert aber, dass der Begriff die Literatur rassifizierter Menschen von der restlichen Literatur abgrenzt. Er möchte in einer Art und Weise über diese Texte reden, die diese Absonderung nicht reproduziert. Besonders schade findet er dabei, dass die Texte, die Rassismus-, Migrations- oder Rassifizierungserfahrungen enthalten, ausschließlich anhand ihrer Thematik betrachtet werden, obwohl in diesen Texten formal und sprachlich sehr viel passiert: „Ja, die Geschichten müssen erzählt und gelesen werden, aber die Erzählweise, die literarische Form verändert die gesamte literarische Landschaft.“ Natürlich können wir literarische Texte mit einer ‚postmigrantischen‘ Brille analysieren. Dabei verlieren wir aber das Künstlerische aus den Augen. Wir könnten die Texte auch aus einer ganz anderen, ästhetischen Perspektive betrachten. Wenn wir von vornherein bestimmte Texte als ‚postmigrantisch‘ abstempeln, stecken wir sie in diese Schublade, sie werden erst als Literatur eingestuft, nachdem sie als ‚postmigrantisch‘ gelabelt wurden. Als Beispiel für die Grenze dieser Betrachtung nimmt er seinen Roman Gegen Morgen (2019): Ihn mit einer ‚postmigrantischen Brille‘ zu analysieren, würde schlicht nicht funktionieren – ‚postmigrantische‘ Herkunft des Autors hin oder her.

Die Sehnsüchte des deutschen Literaturmarktes: Realität und Fiktion

Woher kommt überhaupt dieser Literaturzweig? Bis vor kurzem war er nämlich in Deutschland – im Gegensatz zu Großbritannien – nicht wirklich repräsentiert. Riem Spielhaus führt diese Entwicklung auf eine „Sehnsucht nach Biographien und nach Brüchen in der Gesellschaft“ zurück. Ihrer Meinung nach gibt es gerade im deutschen Literaturmarkt ein großes „Verlangen nach Erfahrungen“. Diese These unterstützt Mithu Sanyal, als sie anekdotisch berichtet, wie oft sie nach der Veröffentlichung von Identitti mit ihrer Hauptprotagonistin Nivedita verwechselt wurde: „Meine Figuren sind fiktiv, das sind keine Teile von mir!“ Deniz Utlu erlebte das Gleiche bei seinem ersten Buch Die Ungehaltenen (2014). Es führte zu peinlichen Situationen, berichtet er, wenn er bei manchen Lesungen als Kind von Gastarbeiter*innen (wie der Protagonist seines Buches) vorgestellt wurde, obwohl er selbst aus anderen Verhältnissen stammt. Aber er konnte es sich zumindest so erklären, dass die Leser*innen häufig verwirrt sind, wenn ein Buch in der Ich-Perspektive geschrieben wird. Beide nehmen jedenfalls einen „Hype“, ein Gegenwartsphänomen in der Literatur wahr: Es gehe der Leser*innenschaft darum, ob das Erzählte dem*r Autor*in wirklich passiert und das Geschehen authentisch sei. Kurz: Ob die Autor*innen das Recht haben, darüber zu schreiben. Dabei kann Deniz Utlu nur wiederholen, wie verkehrt diese Wahrnehmung eines Buches ist. Fiktion und Realität sollten nicht verwechselt werden. Das Wichtige an einem Buch läge in der Erfahrung des Fiktiven: „Den Autor darfst du nicht als Informanten sehen, sondern als Künstler, der sich eine Ästhetik ausgedacht hat.“

Nach diesen Hypothesen über die jetzige Leser*innenschaft können wir uns fragen: Warum lesen wir eigentlich? Für Mithu Sanyal gibt es zwei Hauptgründe: Erstens lesen wir, um etwas Neues zu erleben. Zweitens aber auch, weil wir uns in dem Gelesenen widerspiegeln und wiederfinden wollen. Dabei erzählt sie, dass sie sich in der deutschen Literatur nicht wiederfinden konnte. Diese Frage führt uns zwangsläufig zu einer Überlegung zum Kanon und zur Vermittlung von Literatur im Schulsystem.

Kanon und Literaturvermittlung in der Schule umwandeln

Im (deutschen) Literaturbetrieb funktioniert die Einteilung in ‚lesenswert‘ oder ‚nicht lesenswert‘ über die Literaturpreise, die als Wertmarke fungieren. ‚Lesenswerte‘ Literatur wird in den Kanon aufgenommen, gilt somit als ‚Klassiker‘ und wird weiterhin verbreitet. Aber aufgrund welcher Kriterien wird dieser Kanon erstellt und von wem? In der retrospektiven Analyse liegt der Fokus darauf, zu untersuchen, warum bestimmte Autor*innen (wie z. B. James Baldwin) zu ihren Lebzeiten aus der Literatur und allgemein aus der Kunst herausgestrichen worden sind, erklärt Riem Spielhaus. Dabei fällt auf, dass die Inhalte eine viel größere Rolle gespielt haben als die Ästhetik. Es ging darum, bestimmte Menschen und Positionen stumm zu machen und sie aus exklusiven Räumen auszuschließen. Heutzutage werden diese exklusiven Orte, wie Bühnen oder Museen, mehr und mehr beansprucht. Dadurch ist Riem Spielhaus optimistisch: „Es gibt eine Forderung, in diese Räume einzutreten und die Exklusivität brüchig zu machen, sodass es Hoffnung für eine bessere Repräsentation in Zukunft gibt.“

Um den Raum zu beanspruchen, bedarf es aber sichtbarer Beispiele. Mithu Sanyal erklärt, dass sie sich lange selbst nicht als Autorin wahrnehmen konnte, weil sie keine Vorbilder dafür hatte. Sogenannte ‚Frauenliteratur‘ wurde (wird teilweise immer noch) als eine abgesonderte Literatur abgetan, anders, als die vermeintlich ‚echte Literatur‘.

Es ist also wichtig, die Zusammensetzung des Kanons in Frage zu stellen und anzupassen – damit, wenn wir über ein Thema nachdenken, uns nicht zwangsläufig Zitate von weißen Männern in den Sinn kommen, nur weil es das Einzige ist, das uns in der Schule begegnet ist. Dabei geht es natürlich nicht darum, pauschal zu sagen, dass alle ‚Klassiker‘ (Goethe, Mann, Schiller, usw.) gestrichen werden sollen, sondern darum, die Liste zu ergänzen, zu differenzieren und mit einer anderen Herangehensweise zu betrachten. Es muss auch vermittelt werden, dass es diese anderen Stimmen schon immer gab, und dass sie nicht aus ästhetischen Gründen oder aufgrund mangelhafter Qualität nicht in den Kanon aufgenommen wurden, sondern um die bestehenden Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten.

Riem Spielhaus erklärt, dass Literatur auf eine andere Art und Weise in der Schule unterrichtet werden muss, unterstützt von Mithu Sanyal, die berichtet, wie falsch sie es fand, immer gefragt zu werden, „was der Autor den Leser*innen damit sagen wollte“. Wäre es nicht viel interessanter, die Schüler*innen, die die Texte lesen, zu fragen, was sie daraus mitnehmen? Fragwürdig ist auch, führt Sanyal weiter an, welches Bild wir von den Autoren dieser Klassiker bekommen: Thomas Mann wird „als deutschester aller Deutschen dargestellt, obwohl er doch mixed race ist: Seine Mutter ist Brasilianerin.“ Welchen Zweck hat diese Darstellung?

Alle drei Teilnehmer*innen dieser Podiumsdiskussion sind sich in einem einig: Der schulische Literaturunterricht hat es versäumt, ihnen die richtigen Mittel zur Literaturdeutung und -wahrnehmung mitzugeben. Deniz Utlu erzählt wunderschön, wie die Entdeckung von Paul Celans Lyrik diesen unbewussten, aber verspürten Mangel aufgefüllt hat: „Ich habe nicht nach Literatur gesucht. Ich war sprachlos und verzweifelt und bin auf Celans Texte gestoßen. Sie haben mir eine Sprache gegeben, die mir gefehlt hat.“

Besser, aber noch nicht gut

Was nehmen wir aus dieser anregenden Podiumsdiskussion mit? Wie steht es um die ‚postmigrantische Literatur‘? Ist sie nun fördernd oder eingrenzend?

Der Begriff sollte nicht als Schule, Gattung oder Epoche verstanden werden, sondern als Analysewerkzeug als eine von vielen Lesebrillen, die sich mit der Obsession der Herkunft, ihrer Effekte und Reaktionen befasst. Es ist ein ambivalenter Zugang zu den Texten, der sowohl Vorteile als auch Schwierigkeiten mit sich bringt. Die Inhalte sollten nicht die Überhand zu Ungunsten der Ästhetik nehmen. Literarische Texte sind nämlich nicht nur Plädoyer oder Realitätsabbildung, sondern an erster Stelle Kunstwerke. Grundsätzlich ist es aber ein Fortschritt, dass in der allgemeinen Wahrnehmung und Praxis die Diversität gerade gefördert wird und erwünschtist. Mithu Sanyal möchte, dass in Zukunft viele weitere Autor*innen dazustoßen – und dass wir dabei rassismustheoretisch weiterhin beobachten, wer am Tisch sitzen darf und warum.

Dringend ist es auch, dass wir unseren Kanon dekonstruieren und historisch-gesellschaftlich einordnen. Deniz Utlu fragt: Wie können wir das, was schon da ist, umdeuten? Wenn wir den Kanon anders deuten, entstehen nämlich Brücken zwischen den Texten, die wir sonst immer als in sich geschlossene Werke wahrnehmen. Dieser Forderung schließe ich mich an: Es sind die Leser*innen, die anhand ihrer Interpretationen Brücken zwischen den Texten erzeugen. Die hermeneutische Lektüre von Texten wird in der Literaturwissenschaft seit den 1970er Jahren kaum noch getätigt. Warum sollte diese Praxis in der Schule fortbestehen?

Das Magische an Literatur ist, dass sie uns Welten und Bilder eröffnet, die wir ohne sie nicht hätten entdecken können: „Texte sind die sprachliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit Sujets, die sich nicht auf die eigene Lebenswirklichkeit beziehen. Das erweitert automatisch die eigene Lebenswirklichkeit.“ Lasst uns Texte und ihre Deutungsmöglichkeiten nicht einschränken. Wie schade wäre es doch, immer nur in einer einzigen Perspektive gefangen zu bleiben!