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Vernachlässigt: Medikamentöse Ruhigstellung in Heimen

Zu den zehn wichtigsten vernachlässigten Themen in den Medien zählt auch die medikamentöse Ruhigstellung in Altenheimen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung setzte das Thema für 2017 auf Platz acht. Ebenfalls gelistet sind Themen wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Rolle des Westens im Jemen-Konflikt und Scheinselbstständigkeit.

 

Im Jahr 2015 waren laut Datenportal Statista 2,86 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Von ihnen waren rund 764.000 in Pflegeheimen vollstationär untergebracht. Einer Studie der Universität Witten/Herdecke und dem Verein Pflege zufolge muss sich eine Pflegekraft nachts um durchschnittlich 40 Heimbewohner kümmern, von denen 27 an einer Form von Demenz leiden. Gerade diese Patienten sind häufig unruhig bis aggressiv, manche irren nachts umher.

 

Das Personal sei häufig überfordert und gebe den Heimbewohnern manchmal auch ohne ihr Einverständnis oder das der Angehörigen Benzodiazepine oder Neuroleptika, berichtet die Initiative Nachrichtenaufklärung. «Obwohl die gesetzliche Situation sehr eindeutig ist, dass wenn jemand etwas selber nicht entscheiden kann, ein Betreuer oder Bevollmächtigter das übernehmen muss, werden diese häufig übergangen», schildert Dr. Sebastian Kirsch, Richter beim Amtsgericht Garmisch-Patenkirchen. Teilweise würden Beruhigungsmittel verordnet, ohne die Krankengeschichte des Betroffenen ausreichend zu berücksichtigen. Es geht laut Initiative Nachrichtenaufklärung nicht mehr allein darum, dass die Medikamente gegen Schmerzen oder bei psychischen Leiden gegeben werden, sondern oftmals wahllos und nicht notwendigerweise.

 

Problematisch sei auch der langfristige Einsatz von Benzodiazepinen und Neuroleptika. «Durch die Vergabe von Neuroleptika wird das Sterberisiko um 70 Prozent erhöht», wird der Pharmazeut und Gesundheitswissenschaftler Professor Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen zitiert. «Die Präparate sind darauf ausgelegt, vier bis sechs Wochen lang eingenommen zu werden. Sie werden aber monatelang gegeben.»

 

Der unkritische und langfristige Einsatz erhöht das Risiko für Nebenwirkungen wie erhöhtem Sturzrisiko, Muskelschwäche, Koordinationsstörungen, verwaschener Sprache, Antriebs- und Interesselosigkeit bis hin zu Pseudo-Demenz, aber gerade bei älteren Patienten sind auch paradoxe Reaktionen wie Erregung und Angstzustände möglich.

 

Das Arbeitspensum der Pflegekräfte sei tagsüber und nachts ohne Medikamente oder eine Fixierung gar nicht zu bewältigen, zitiert die Initiative den Sozialpädagogen Claus Fussek, der die Missstände in Pflegeheimen in mehreren Büchern anprangert und auch Lösungsvorschläge bietet. Statt die Bewohner ruhigzustellen, was man bei Kindern ja auch nicht machen würde, bräuchten sie eine Beschäftigung und Zuwendung. Doch das kostet Zeit und ist somit teuer. Gesellschaftlich werde dies jedoch nicht genügend eingefordert. «Die Menschen kümmern sich erst um dieses Thema, wenn sie davon betroffen sind, vorher nicht», kritisiert Fussek. «Eigentlich sind sich alle beteiligten Menschen dieser Thematik bewusst und dennoch wird sie von ihnen totgeschwiegen», so das Fazit der Initiative. Sie hofft mit ihren Top Ten, mehr Aufmerksamkeit in den Medien für das Thema zu erreichen. (dh)

 

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21.02.2017 l PZ

Foto: Fotolia/Peter Maszlen